#DigitalLove
Wie sich die Digitalisierung auf die Schweizer Art zu lieben auswirkt
Matchen, Ghosten, Benching, Zombieing – diese Begriffe klingen für einige sicher erst einmal neu, andere werden wissend nicken. Diese Anglizismen beschreiben im Prinzip Dinge, die es schon vor dem Zeitalter von Tinder und Co. gab – nur sind sie heute griffiger bezeichnet. Die Prinzipien, sich bei jemandem einfach nicht mehr zu melden oder eine andere Person nur dann aus der Mottenkiste hervorzuholen, wenn es einem gerade passt, sind keine Erfindung des Online-Zeitalters, allerdings könnten diese Phänomene heute häufiger vorkommen. Die Digitalisierung sorgt dafür, dass mit einem Klick eine Kontaktaufnahme möglich ist – sei es, um ein Sexdate auszumachen oder die echte Liebe zu finden. Ebenso schnell können solche Begegnungen wieder beendet werden, mitunter ganz ohne das eigene Zutun.
Wir sind der Sache auf den Grund gegangen und haben eine Studie der bekannten Online-Dating-Plattform Parship über den „Einfluss des Internets auf das Liebesleben“ ausgewertet. Wir wollten wissen: Wie viele Schweizer suchen denn eigentlich online nach ihren Partnern? Und wie viele davon werden sie gleich wieder los? Ist Liebe einzigartig? Beugen wir uns am Ende unbewusst dem Hyperüberfluss der digitalen Welt und bleibt dabei die Romantik auf der Strecke?
Um diese Fragen zu beantworten, haben wir einen Online-Liebesatlas zusammengestellt. Er bildet ab, wo die Schweizer am häufigsten nach Liebe, Freiheit oder einer vergangenen Liebe suchen und welche Rolle dabei die Digitalisierung spielt.
In diesen Schweizer Regionen ist Online-Dating besonders beliebt
„Tinder hat eine Funktion eingeführt, die die ‚Likes‘ der User auf 100 pro Tag beschränkt“, gibt Eva Illouz in der SRF Sternstunde an – mit kostenpflichtigen Premiumpaketen kann diese Zahl sogar unbegrenzt sein. Das Angebot zum Swipen ist also gross. Aber gilt das auch für die Nachfrage? „Lassen Sie uns doch einmal anschauen, wer Tinder denn überhaupt nutzt“, entgegnet die Moderatorin.
Ja, wer nutzt denn Tinder und alle anderen sozialen Online-Medien überhaupt zur Partnersuche? Woher kommen die Nutzer, wie alt sind sie und wie beeinflusst das Internet ihre Definition von Romantik?
Werfen wir einen genaueren Blick auf die restlichen Kantone, sehen wir, dass die Ergebnisse teilweise nur geringfügig variieren. 32,7 % der Waadter haben schon einmal jemanden getroffen den sie im Internet kennengelernt haben; die Walliser sind mit 31,4 % ebenfalls engagierte Online-Dating-App-Benutzer und die Genfer ziehen mit 32,7 % am selben Strang wie die Waadter. In der Ostschweiz verteilen sich 16,7 % auf Graubünden, die restliche Ostschweiz schaut sich wohl eher offline nach ihren Dates um.
Die Mehrheit der Liebessuchenden im Internet ist männlich. Die Altersstruktur erstreckt sich hauptsächlich über zwei Altersgruppen: 18-29 Jahre (46 %) und 30-39 Jahre (43,5 %). Über die Hälfte (55 %) der Studienteilnehmer sind in einer Beziehung, die maximal ein Jahr alt ist. 69 % davon haben sich online kennengelernt. Zum Vergleich – nur 6,3 % der restlichen befragten Paare haben sich vor 2001 kennengelernt, also vor der Zeit des Online-Datings.
Wir sehen also – mehr Auswahl besteht sicherlich. Dass dies mitunter dazu beiträgt, dass Beziehungen kürzer sind, es aber mehr davon gibt, ist eine zahlenbasierte Vermutung. Doch muss der digitale „Hyperüberfluss“ denn etwas Schlechtes sein? Können uns die vermehrten Auswahlmöglichkeiten denn nicht auch dabei helfen, Mrs. oder Mr. Right zu finden? Oder ist es wirklich so, dass wir in einer Swipe-Gesellschaft leben, die kollektiv unter FOMO (Fear Of Missing Out) leidet und dadurch beziehungsunfähig geworden ist?
Um dem auf den Grund zu gehen, haben wir erfragt, wo man denn in der Schweiz am häufigsten spontan abserviert wird – und ob sich das mit Online-Dating in Verbindung bringen lässt.
Das „Ghosting“-Phänomen: Wenn der Partner plötzlich zum Geist wird
Eine Gegenüberstellung zwischen Investition und Ertrag – das Schema passt zu einer modernen Gesellschaft, in der Rationalität oft das Herz in den Hintergrund drängt. Dennoch spielt Zeit wohl auch eine grosse Rolle, wie Dr. Heer betont. Schauen wir uns die Daten an: Der Grossteil der Teilnehmer, der schon einmal selbst geghostet hat, ist aktuell schon bis zu fünf Jahren in einer Beziehung (26,2 %) und zwischen 30 und 39 (20,5 %) bzw. zwischen 40 und 49 Jahre (18,2 %) alt. Nur 17,1 % der vergebenen Teilnehmer haben sich online kennengelernt, was daraus schliessen lässt, dass „Ghoster“ nicht zwangsläufig „Online-Dater“ sind.
Was kann man von den Zahlen ableiten? Ghosting ist kein Trend der Jugend, (Kennenlern-)Zeit spielt jedoch definitiv eine wichtige Rolle. Diese Zeit ist online meistens begrenzt, da sich schnell Langeweile einstellt oder das nächstbessere Match nur einen Swipe entfernt sein könnte. Jedoch hat man auch nicht besonders viel Zeit, wenn man sich in einer Bar begegnet und zwei Tage darauf zum Date trifft. Unabhängig davon, ob man sich online oder offline getroffen hat, das Potenzial, geghostet zu werden, besteht in beiden Szenarien. Es gibt auch geschlechtsspezifische Unterschiede: Während mehr Männer angeben, selbst zu ghosten (19,4 % im Vergleich zu 14,4 % an Frauen), geben mehr Frauen an, geghostet zu werden (21,8 % im Vergleich zu 20,2 %).
Auch spannend: Die Frage, ob man selbst schon einmal geghostet wurde, beantwortet die Gruppe, die erst seit einem Jahr in einer Beziehung ist, signifikant am stärksten mit „Ja“ (40 %). Wir zeigen in unserem „Ghosting-Atlas“, wo die Chancen in der Schweiz am höchsten sind, uncharmant abserviert zu werden.
Was passiert eigentlich, wenn man es sich anders überlegt und den geghosteten Partner doch wiedersehen möchte? Dann rutscht man sogleich in das nächste Beziehungsphänomen – vom „Ghost“ zum „Zombie“.
„Zombieing” – Wie viele Zombies gibt es unter den Schweizern?
Dieses Verhalten ist bestimmt schon vor Tinder und Co. öfter vorgekommen, jedoch wurde es bisher nie wirklich betitelt. Das Zeitalter des Online-Datings änderte das. Kann man hier jedoch einen Trend ablesen? Wir schauen uns die Zahlen genauer an.
Studienteilnehmer, die die Frage „Haben Sie sich nach einem plötzlichen Kontaktabbruch wieder beim Partner gemeldet und so getan, als wäre nichts gewesen“ mit „Ja“ beantworteten, waren zwischen 18 und 29 Jahren (16,7 %) bzw. zwischen 30 und 39 Jahren (17,5 %) alt. Hier liegt der Trend bei Beziehungstypen bis zu fünf Jahren (26,2 %). Es gaben mehr Studienteilnehmer an, sich online kennengelernt zu haben (17,1 %) als offline (12,7 %). Daraus lässt sich schliessen, dass uns die Online-Welt eine Kontaktaufnahme einfacher macht. In Zeiten des Briefverkehrs gestaltete sich eine erneute Kontaktaufnahme deutlich schwieriger – heutzutage muss man nur mehr ein Facebook-Like setzen, um wieder auf sich aufmerksam zu machen. Doch wo ist die Sehnsucht nach Verflossenem am grössten?
Wieder einmal ganz vorne dabei ist die Nordwestschweiz (16,9 %). Da das Baselland wohl am meisten ghostet, verwandeln sich die Bewohner auch tendenziell häufiger zu Zombies. Danach kommen die Westschweiz (14,8 %), der Raum Zürich (13,5 %), das Mittelland (12,7 %) und die Zentralschweiz (12,1 %). Die nicht Ghosting-willigen Berner müssen auch selten einen Partner zurücknehmen: Nur 10,8 % sehnen sich nach dem abservierten Expartner.
Matchen, Ghosten, Zombieing – wird unsere Liebe nun digital beeinflusst?
Bei genauer Durchsicht der Daten besteht jedoch ein Zusammenhang zwischen Ghosting und Zombieing, wie wir am Beispiel der Nordwestschweiz sehen, wo sich beide Ergebnisse prozentual decken. Dies ist kein altersbedingtes Phänomen – abserviert und neu angebandelt wird in allen Altersgruppen, auch in jenen, in denen Online-Dating weniger populär ist. Egal ob offline oder online, der Kontaktabbruch wird speziell in der Anfangsphase von Beziehungen noch immer praktiziert, Männer sind dabei in der Überzahl. Beim Zombieing gibt es jedoch eine Verbindung zur Online-Welt. Viele „Zombies“ lernen auch online den Partner kennen. Dies hängt vermutlich damit zusammen, dass das Internet die erneute Kontaktaufnahme leichter macht und Barrieren nivelliert.
Die Studie erfragte ebenfalls, wie es mit der aktuellen Partnerzufriedenheit aussieht. Die Daten zeigen, dass sich der Grossteil der Schweizer in einer Beziehung, die schon länger als 5 Jahre hält, online kennengelernt hat (20,2 % online versus 15,1 % offline). Ebenfalls scheint der Kinderwunsch bei Online-Paaren (85 %) ausgeprägter zu sein als bei Offline-Paaren (74 %).
Vielleicht lässt sich unser Dating-Verhalten aber auch gar nicht gänzlich empirisch ergründen. Zu komplex ist die Partnerwahl – heute wie damals. Dr. Heer fasst das für uns so zusammen:
Herr Dr. Klaus Heer ist einer der bekanntesten Paartherapeuten der Schweiz und hat in seinen 46 Berufsjahren schon viele Beziehungen vor dem Scheitern bewahrt. Er ist zudem Autor von vier Büchern und gelegentlich als Berater in Medien tätig.